Aschinger erobert Berlin
- Marleen Tigersee
- May 29
- 6 min read
Updated: Sep 2

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Sie kennen das vielleicht: Werktags in der Großstadt, Mittagszeit. Der Hunger ist groß, die Zeit ist knapp und der Geldbeutel könnte auch etwas voller sein. Wo gehen Sie hin? Wäre es nicht toll, wenn es einen Ort gäbe, der ansprechend eingerichtet ist, an dem Sie immer freundlich und schnell bedient werden, der stets frische Speisen anbietet, die auch noch gut und günstig sind? Wo Sie immer so viele kostenlose Brötchen bekommen, wie Sie mögen, selbst wenn Sie nur ein Getränk bestellen? Das klingt zu schön, um wahr zu sein? Aber so einen Ort gab es und sogar nicht nur an einer Stelle in Berlin. Wenn Sie nun hungrig geworden sind, nehme ich Sie mit auf eine Zeitreise und zeige Ihnen wie die Gebrüder Aschinger aus einem kleinen Dorf in Schwaben einst die deutsche Hauptstadt kulinarisch eroberten.

Die Entstehung der modernen Großstadt
Berlin um die Jahrhundertwende. Eine Stadt wird zur Metropole. Die Millionenmarke ist bereits geknackt und immer strömen noch mehr und mehr Menschen nach Berlin, denn stetig wachsende Industrien wie Stahl-, Chemie-, und Maschinenbauwerke brauchen Arbeitskräfte. Neue Verkehrsmittel wie die Stadtbahn, die Ringbahn und Pferdeomnibusse bringen die Massen täglich von A nach B. Darunter zwei Brüder aus Schwaben: Carl und August Aschinger. Einige Jahre leben sie schon in der Stadt, sie arbeiten als Koch und Kellner, aber beide träumen von etwas Größerem: Ein eigener, innovativer Gastronomiebetrieb.

Kaffeeklappen und Bierkneipen
Wo viele Menschen leben, dort findet sich auch einen großen Bedarf an Orten, an denen sie verköstigt werden können. Um die Jahrhundertwende gibt es in Berlin keine Knappheit an Lokalen verschiedenster Qualität, doch gerade für den einfachen Arbeiter mit kleinem Geldbeutel finden sich meist nur verrauchte Bierkneipen oder Schnapsschänken mit klarem Fokus auf flüssige Nahrung oder sogenannte Kaffeeklappen. Dies waren meist dunkle und etwas schmuddelige Verschläge, in denen zwar Kaffee und Stullen für kleinste Beträge angeboten wurden, an denen jedoch niemand lange bleiben mochte. Die Brüder Aschinger entdecken im Kneipendschungel Berlins eine Marktlücke: Ein Lokal, in dem man ohne lange Wartezeiten günstige und gute Speisen bekommt und das so ansprechend eingerichtet ist, dass man noch auf ein zweites Glas Bier bleibt oder zumindest immer wieder gerne zurückkommt. 1892 gelingt die Eröffnung des ersten Gastronomiebetriebs, der zunächst schlicht Aschingers 1te Bierquelle genannt wird, doch das Konzept wird rasch so erfolgreich, dass die Brüder weitere Filialen an den verkehrsreichsten Plätzen Berlins eröffnen: Ein Geschäftsimperium wird geboren.

Das System Aschinger
Carl und August Aschinger haben ihr Geschäftsmodell nicht nur auf das stetig wachsende Alltagstempo der Menschen in der Hauptstadt angepasst, sie haben außerdem erkannt, gezielt auf die Bedürfnisse einer modernen Klientel zu reagieren und sich so noch zusätzlich von der Konkurrenz abzusetzen. Eine bisher nie gekannte Anzahl an frisch gezapften Bieren für einheitliche 10 Pfennig pro Glas, appetitlich präsentierte Speisen, Gratisbrötchen beim Bestellen eines Getränks und ein Trinkgeldverbot – ein neuartiges Konzept, das sich rasant durchsetzt. Günstigster Preis bei bester Qualität wird Aschingers Firmenleitspruch. Um die bestmögliche Kontrolle über die angebotenen Speisen zu gewährleisten, wagen die Brüder noch einen Coup: Sie lassen riesige Lebensmittelfabriken über die Jahre entstehen, in denen alles von eigenen Mitarbeitern geschlachtet, gebacken und gekocht wird. Es werden sogar Führungen angeboten, bei denen alles vor Ort besichtigt werden kann, ein weiterer kluger Schachzug der geschäftigen Brüder.


Kritik und früher Tod der Gründer
Während die Aschingers eine Filiale nach der anderen an jedem großen Umschlagplatz in Berlin eröffnen, fühlt sich die Konkurrenz durch das rasante Tempo dieses Wachstums in ihrer Existenz bedroht. Auf einer Versammlung des Verbandes der Gast- und Schankwirthe für Berlin und Umgebung 1897 (es gab zu der Zeit bereits 25 Aschinger-Lokale) wird sich lautstark gegen die massenhafte Vergabe an gastwirtschaftlichen Konzessionen ausgesprochen. Die Betriebe der Brüder werden von einem Versammlungsmitglied sogar als Krebsschäden bezeichnet, andere rufen zum Kampf gegen das Großkapital auf, um der übermächtigen Aschingerei, wie es abfällig heißt, Herr zu werden. Aller Kritik zum Trotz bleibt das Geschäft der Brüder weiter erfolgreich. Dies ändert sich auch zunächst nicht als die beiden Geschäftsgründer bereits 1909 und 1911 im Alter von nur 48 und 53 Jahren versterben.
Krisenjahre
Die erste große Krise, die das Haus Aschinger heimsucht, sind zweifelsohne die Kriegsjahre 1914-1918. Auch wenn die Betriebe weitestgehend am Laufen bleiben, zwingen Mangelwirtschaft und schlechte Ernten zu einschneidenden Veränderungen des gewohnten üppigen Angebots und des hohen Qualitätsanspruchs. Brötchen aus Ersatzmehl, Dünnbier und massive Personalkürzungen stoßen zwar nicht überall auf Anklang, aber sie lassen die Aschingers die Kriegszeit überstehen. Durch die Einsparungen und die weiterhin hohe Frequentierung kann zwischenzeitlich sogar noch so viel Gewinn erzielt werden, dass die anschließenden Inflationsjahre das Imperium auch nicht zum Einstürzen bringen. Nach der Währungsreform 1923/1924 geht es in den Folgejahren wieder bergauf und das Unternehmen wagt den nächsten Schritt in Richtung Wachstum. Aschinger möchte nun auch zum Hotelgiganten werden und erwirbt die Mehrheitsbeteiligung von einigen Berliner Grand Hotels. Doch stellen sich diese Investments bald als zu gewagt heraus und mit den laufenden Kosten aller Betriebe (deren Organisation darüber hinaus inzwischen unzeitgemäß und verlustreich ist) befindet sich das Haus Anfang der 1930er Jahre bereits in der nächsten Krise.

Umstrukturierung und neue Werbestrategie
Als ein Wirtschaftsgutachten 1933 die Aschinger-Betriebe genau unter die Lupe nimmt, wird deutlich wie nah vor dem Ruin das Großunternehmen wirklich steht. Radikale Umstrukturierungen der einzelnen Prozesse, eine modernere Art der Buchhaltung, ein strafferer Führungsstil und der Verkauf der Hotelbeteiligungen sollen den nötigen Umschwung bringen. Außerdem möchte das Traditionshaus mit einer neuen Werbestrategie für mehr Umsatz sorgen. Eine Figur mit Namen Onkel Otto wird geschaffen, die in verschiedenen Situationen plötzlich verschwindet. Auf die Frage: „Wo ist Onkel Otto?“ folgt stets die Antwort: „Er isst bei Aschinger“.

Zusätzlich zu der neuen Werbefigur liegt in den Lokalen nun auch ein betriebseigenes, monatlich erscheinendes Heft aus, das neben kurzweiliger Unterhaltung wie Kreuzworträtsel, humorvolle Geschichten sowie Schallplatten- und Kinofilmrezensionen auch noch den Gast auf aktuelle Aktionen wie Fisch-Wochen oder besondere Frühstücksangebote aufmerksam macht. Die Werbemaßnahmen glücken und Aschinger kann wieder an alte Erfolge anknüpfen. Während der Olympiade in Berlin 1936 kann das Unternehmen sogar Rekordumsätze verbuchen.
Das Ende eines Imperiums
Nachdem das Unternehmen den frühen Tod der Gründer, einen Weltkrieg, die Inflationszeit und Fehlinvestitionen überstanden hat und zuletzt noch über 30 Bierquellen, 15 Konditoreien, 8 Restaurants und 20 weitere Verkaufsstellen verfügt, wird es einem zweiten Weltkrieg nicht mehr standhalten. Die Luftangriffe in den 1940er Jahren zerstören eine Großzahl von Betrieben, dazu kommen Beschlagnahmungen von Gebäuden durch die Wehrmacht, allgemeiner Mangel an Ressourcen und Diebstahl durch notleidende Menschen. Das endgültige Aus ist schließlich 1945 mit der Kapitulation erreicht. Nur wenige Aschinger-Lokale stehen nach dem Bombenhagel noch, die Teilung der Stadt macht eine einheitliche Unternehmensführung so gut wie unmöglich. Über die nächsten Jahrzehnte können sich einzelne kleine Verkaufsstellen dennoch halten, die Zeiten des großen Erfolgs sind jedoch vorbei.
Aschinger im kollektiven Gedächtnis
Aschinger ist und bleibt ein Phänomen der modernen Zeit. Die stetig wachsende, pulsierende Metropole Berlin, Millionen von Menschen, die sich täglich dort bewegen, technologische Innovationen und Fortschrittsgedanke und ein Unternehmen mittendrin, das wie kein anderes die Zeichen der Zeit erkennt und zu nutzen weiß. Im Gewusel des Großstadtdschungels ist Aschinger eine Konstante, ein Ort, den man in guten, wie in schlechten wirtschaftlichen Zeiten aufsuchen kann, denn er wird von allen Berlinern jedes Standes frequentiert.

Vielen Menschen wird er trotz der Widrigkeiten der Geschichte gut in Erinnerung bleiben. So möchte ich Sie gerne mit einem Ausschnitt aus einer Kurzgeschichte von Robert Walser verabschieden, der anschaulich und humorvoll einen seiner zahlreichen Aufenthalte bei Aschinger beschreibt. Ich hoffe, ich konnte Sie gut unterhalten und dass Sie nun vielleicht Lust bekommen haben auf einen Happen bei Ihrem Lieblingslokal vorbeischauen. Guten Appetit!
Ein Helles bitte! Ich schaue das gefüllte Glas einen Moment an, nehme es mit zwei Fingern an seinem Henkel und trage es nachlässig zu einem der runden Tische. Ich stelle das nässende Glas ordnungsgemäß auf den Filzuntersatz und überlege, ob ich mir etwas zu essen holen soll, oder nicht. Der Eßgedanke treibt mich zu dem blauweiß gestreiften Schnittwaren-Fräulein. Von dieser Dame lasse ich mir eine Auswahl Belegtes auf einem Teller verabreichen, derart bereichert trabe ich ordentlich träge an meinen Platz zurück. Mit dem zweiten oder dritten Glas Hellem in der Faust treibt's einen dann gewöhnlich an, allerlei Beobachtungen zu machen. Es ist eine innige Freude, zu sehen, wie hier nach Wurstbrötchen und italienischen Salaten geangelt wird. Immer wimmelt es ein und aus von eßlustigen und satten Menschen. Die Unbefriedigten finden rasch an der Bierquelle und am warmen Wurstturm Befriedigung, und die Satten springen wieder an die Geschäftsluft hinaus, gewöhnlich eine Mappe unter dem Arm, einen Brief in der Tasche, einen Auftrag im Gehirn, einen festen Plan im Schädel, eine Uhr in der offenen Hand, die sagt, daß es jetzt Zeit ist. Wie lange habe eigentlich denn ich im Sinn, dazubleiben? Die Bierburschen haben momentan ein wenig Ruhe, aber nicht lange, denn es wälzt sich wieder von draußen herein und wirft sich durstig an die sprudelnde Quelle.*
*Robert Walser Aschinger, aus: Aufsätze (1913), mit nicht markierten Auslassungen für bessere Lesbarkeit
Als weitere Literatur empfehle ich: Karl-Heinz Glaser: Aschingers "Bierquellen" erobern Berlin, Ubstadt Weiher 2004


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