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  • Marleen Tigersee

Kafkas letzte Liebe



Ein heißer Sommerabend im Juli. Ein sehr schlanker Mann mit ausdrucksstarken, dunklen Augen schaut vom Balkon einer Ferienpension herunter. Unter ihm eine Gruppe spielender und lärmender Kinder. Der Mann scheint sich nicht daran zu stören, er lächelt. Am nächsten Tag wird er am Strand gesehen. Bei ihm sind eine Frau, ein Junge und ein Mädchen. Er schwimmt, er spaziert, er sitzt in einem Strandkorb. Sein Blick streift die Menschen, die Seebrücke, das Meer. Wer ist dieser geheimnisvoll wirkende Mann, was macht er hier und wer ist seine Begleitung?





Sommer 1923. Die Hyperinflation wütet in den deutschen Städten, doch hier im kleinen Ostseebad Graal-Müritz scheint die Welt noch weitestgehend in Ordnung. Feriengäste genießen das warme Wetter, das Meer und das gute Klima, für das der Kurort berühmt ist. Um genau davon zu profitieren ist im Juli des besagten Jahres ein Schriftsteller aus Prag angereist. Er ist 40 Jahre alt und leidet unter voranschreitender Lungen-Tuberkulose. Der Kurgast ist niemand anderes als Franz Kafka, die Begleiterin seine Schwester Elli und deren Kinder Felix und Gerti.






Zwei jungen Frauen ist Kafka bereits aufgefallen: Tile Rössler und Dora Diamant* die beide im Jüdischen Volksheim arbeiten, das genau an seine Pension angrenzt. Die erst 16-jährige Tile, die das restliche Jahr über in einer Buchhandlung in Berlin arbeitet, schwärmt bereits für den Schriftsteller, den sie von seiner Erzählung Der Heizer kennt und möchte sich gleich mit ihm anfreunden. Auch die 25-jährige Dora findet Gefallen an ihm, doch wird es noch eine Woche dauern bis die aufgeweckte Tile Kafka schließlich zum Sabbat ins Volksheim einladen kann und Dora ihm offiziell vorgestellt wird.





Als sich Kafka und Dora zum ersten Mal begegnen, ist sie gerade beschäftigt in der Küche Fische auszunehmen. Ihm fallen ihre zarten Hände auf, die solch blutige Arbeiten verrichten müssen. Obwohl Kafka eigentlich Tiles Gast ist, kann der Schriftsteller den restlichen Abend die Augen kaum von Dora abwenden. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, auch wenn einige Jahre zwischen ihnen liegen. Wenig später wird er über sie schreiben: Dora ist ein wunderbares Wesen.


Von da an sehen sie sich regelmäßig, besuchen sich, gehen spazieren. Die junge, lebenslustige Frau beeindruckt Kafka auf vielerlei Weise, sie ist gebildet, spricht fließend polnisch, jiddisch, hebräisch und deutsch. Aufgewachsen mit einem streng religiösen Vater hat sie sich schon in jungen Jahren aufgrund unterschiedlicher Anschauungen von ihm emanzipiert, etwas, was dem 15 Jahre älteren Schriftsteller bisher nicht gelungen ist. Als Kafka Ende August abreisen muss, sind sie sich sicher: Sie wollen in Berlin zusammen leben.





Zusammen zu leben mit einer Frau und so fern von seiner Heimat Prag – für Kafka ein kühner Schritt. Vor allem weil es mit seiner Tuberkulose bald wieder schlechter aussieht. Die Krankheit begleitet ihn schon einige Jahre, zuletzt ist es so schlimm, dass er seine Stellung bei der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt aufgeben muss und vorzeitlich pensioniert wird. Die frühe Pensionierung bringt aber auch Vorteile mit sich. Der Büroalltag, der stets so viel der kostbaren Zeit des Tages verschlungen hat, den Kafka dringend zum Schreiben gebraucht hätte, ist endlich passé. Die Rente, die er nun bezieht, ist zwar bescheiden, aber es ist so viel, dass er sich ein Leben als freier Schriftsteller vorzustellen beginnt. Mit Dora zusammen kann dieser Traum nun Wirklichkeit werden. Für sein neues Leben kommt für Kafka nur eine Stadt infrage (und glücklicherweise lebt Dora bereits dort): Berlin.





Leider könnte der Zeitpunkt, den sich Kafka für seinen Umzug nach Berlin aussucht, nicht schlechter sein. Die Hyperinflation ist weiterhin an der Tagesordnung, Lebensmittel sind knapp und auch der Wohnungsmarkt ist hart umkämpft. Es findet sich jedoch ein möbliertes Zimmer in Steglitz, ein etwas außerhalb gelegener, ländlicher Stadtteil mit vielen Gärten und Wäldern, der erst wenige Jahre zur Hauptstadt gehört. Am 23. September steigt Kafka in den Zug nach Berlin. Fast wäre es allerdings nicht dazu gekommen, denn in der Nacht vor der Abfahrt beschleichen den Schriftsteller alle Arten von Ängsten und Zweifeln, die er seiner Schwester Ottla in einem Brief drei Tage später anvertraut:



"[...] die Nacht vorher war eine der allerschlimmsten gewesen, etwa dreiteilig zuerst ein Überfall durch alle Ängste, die ich habe, und so groß wie diese ist kein Heer der Weltgeschichte, dann stand ich auf […] und dämmerte dann eine Viertelstunde, dann aber war es zuende und ich beschäftigte mich den Rest der Nacht mit der Koncipierung des Absagetelegrammes an den Vermieter nach Berlin und mit der Verzweiflung darüber."**



Doch Kafkas Wunsch nach dem neuen Leben, von dem er so lange geträumt hatte, überwiegt schließlich seine Ängste und Zweifel und so bezieht er Ende des Monats seine erste eigene Wohnung in Berlin in der Miquelstraße 8.





Das Leben in Berlin könnte für die beiden Frischverliebten so schön sein, wären da nicht die täglichen Teuerungen, die Lebensmittel- und Sachspenden von Kafkas Familie notwendig machen, um über die Runden zu kommen und die Vermieterin, die keine Gelegenheit auslässt, dem Paar den Aufenthalt so unbequem wie möglich zu machen. Wenn sie nicht gerade die Miete erhöht (zum Schluss beträgt diese eine halbe Billion Reichsmark), lässt sie abfällige Bemerkungen über die „wilde Ehe“ zwischen dem Schriftsteller und Dora fallen. Die Lage wird bald so unangenehm, dass die beiden sich eine neue Bleibe suchen. Ende November ziehen sie innerhalb von Steglitz in die Grunewaldstraße um. Dora muss den Umzug alleine erledigen, da Kafka durch seine Tuberkulose-Erkrankung schon zu schwach für eine solche körperliche Anstrengung geworden ist. Doch glücklicherweise haben die beiden nicht viele Habseligkeiten, sodass alles an einem Tag in die neue Wohnung geschafft werden kann.





Doch die anfängliche Freude über die neue Wohnung währt nur kurz, schon nach 10 Wochen ist das Paar gezwungen erneut umzuziehen. Aus finanziellen Gründen möchte die Vermieterin nun drei statt der bisherigen zwei Zimmer zusammen vermieten, was die Mittel von Kafka und Dora jedoch übersteigt. Die Suche nach einer Wohnung geht von vorne los. Fündig werden sie im Stadtteil Zehlendorf, wo sie im Februar 1924 in ihre letzte gemeinsame Wohnung übersiedeln. Kafka geht es inzwischen immer schlechter, sodass Freunde und Familie versuchen, ihn zum Umzug nach Prag zu überreden. Für den Schriftsteller ist dies undenkbar, zu sehr hängt er an seiner neu gewonnen Freiheit. An seinen Freund Max Brod schreibt er:



"Du hast recht, an das 'warme, satte Böhmen' zu erinnern, aber es geht doch nicht gut, ein wenig ist man doch festgerannt […], außerdem hatte ich Wärme und Sattheit 40 Jahre und das Ergebnis ist nicht für weitere Versuche verlockend."***



Im März wird sein Zustand so kritisch, dass er letztendlich einwilligt, sich in ein Sanatorium zu begeben. In Begleitung seiner Freunde Max Brod und Robert Klopstock fährt er zunächst zurück nach Prag und von dort ein paar Wochen später weiter nach Österreich. Sein qualvoller Kampf gegen die Tuberkulose, die inzwischen auch seinen Kehlkopf befallen hat, wird sich noch bis zum Juni hinziehen. Kafka wird immer schwächer, kann gegen Ende kaum noch schlucken oder sprechen. Auf seinem Sterbebett macht er Dora, die sich die ganze Zeit hingebungsvoll um ihn kümmert, noch einen Heiratsantrag. Doch zur Eheschließung kommt es nicht mehr. Doras Vater, den Kafka schriftlich um die Hand seiner Tochter bittet, verweigert seine Zustimmung. Einen Monat vor seinem 41. Geburtstag stirbt der Schriftsteller im Beisein von Dora und seinem Freund Robert.












So tragisch die Umstände von Kafkas letztem Lebensjahr anmuten, so zeigt sich doch noch einmal eine ganze andere Seite seines Wesens, welche im Widerspruch zu der altbekannten Darstellung des depressiven und neurotischen Künstlers steht, dessen Leben vom schwierigen Verhältnis zu seinem Vater und seinen unglücklichen Beziehungen mit Frauen geprägt war. In Doras Memoiren lernen wir einen anderen Kafka kennen, einen liebevollen, heiteren, Späße machenden Menschen. Diese Seite war auch in seinem weiterem Umfeld bekannt. Sein bester Freund Max Brod spricht sogar von Komödien, die der Schriftsteller immer gerne spielte.


„Aus Kafkas kleinen Komödien darf man schließen, dass er, zeitweise zumindest, nicht nur guter Dinge, sondern gelöst, ja glücklich war. Max Brod hat bemerkt, dass er Kafka erst in dessen letztem Lebensjahr 'wahrhaft glücklich gesehen' habe, im Zusammensein mit Dora.****



Wenn Sie nun noch mehr über die Geschichte von Franz Kafka und Dora Diamant erfahren möchten, empfehle ich den Roman Die Herrlichkeit des Lebens von Michael Kumpfmüller, zu dem es nun auch einen Kinofilm gibt (Filmstart: 14. März 2024).














*manchmal auch Dymant

** Dieter Lamping, Anders Leben – Franz Kafka und Dora Diamant, Berlin 2023

*** ebd.

**** ebd.

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