Das Rennen gegen die Zeit - Teil 2
- Marleen Tigersee
- Mar 29, 2023
- 5 min read
Updated: May 31

Das Rennen beginnt
Nun galt es keine Zeit mehr zu verlieren. Ein Plan wurde gefasst, zwei Teams für den Transport aufzustellen. Eines sollte vom Bahnhof in Nenana starten, von wo das Serum ankommen sollte, das andere vom Zielpunkt Nome. Ungefähr auf halber Strecke war die Übergabe der kostbaren Fracht geplant. Um die 300.000 Einheiten Anti-Toxin vor den Elementen zu schützen, wurden die Glasphiolen in gefütterte Decken eingewickelt und in einem Metallzylinder verstaut, der allein fast 10 Kilogramm wog. Der Musher, der die erste Etappe übernehmen sollte, war Willard „Wild Bill“ Shannon. Zusammen mit seinen neun Hunden machte er sich am Morgen des 27. Januar auf den Weg ins 84 km entfernte Tolovana. Die Temperatur lag bei -46 Grad und sollte noch weiter fallen.

Mit jeder Stunde, die verging, fühlte Shannon die Kälte mehr in seine Kleidung kriechen. Er versuchte durch Bewegen der Arme und Beine warm zu bleiben, lief sogar kurze Strecken neben dem Schlitten her, doch spürte er, dass er diese Anstrengung nicht lange würde durchhalten können. Außerdem sah er, wie ein paar seiner jüngeren Hunde nicht mehr gleichmäßig mitliefen. Der Musher wusste, wenn er nicht bald eine Pause machte, waren er, seine Tiere und das Serum verloren. Am Ende seiner Kräfte erreichte Shannon gegen 3 Uhr morgens endlich ein Roadhouse*, sein Gesicht hatte schwarze Stellen durch Erfrierungen, vier seiner Hunde hatten blutige Schnauzen und waren so erschöpft, dass sie nicht mehr weiterkonnten.

Die Lage spitzt sich zu
Währenddessen verschlechterte sich die Lage in Nome zusehends. Trotz Einhaltung der Quarantäne nahmen die Meldungen von weiteren Fällen nicht ab. Dr. Welch, der noch eine Charge bereits abgelaufenes Anti-Toxin ausfindig machen konnte, wurde nun vor die schwierige Wahl gestellt, wem er das Mittel verabreichen sollte. Wer konnte mit dem alten Serum gerettet werden, wenn es überhaupt noch eine Wirkung besaß?
Mittlerweile hatten auch die Zeitungen von der Diphtherie-Epidemie erfahren und berichteten täglich aus allen Teilen der Vereinigten Staaten von der dramatischen Situation in Alaska. Die öffentliche Anteilnahme war enorm, da sich auch in anderen Bundesstaaten die Temperaturen auf einem Rekordtief befanden und viele Orte wegen der extremen Witterung von der Außenwelt abgeschnitten waren.

Nachdem Dr. Welch den fünften Todesfall melden musste, wurde beschlossen weitere Hundestaffeln loszuschicken, um das Serum noch schneller nach Nome zu bringen. Vor allem der norwegische Musher Leonhard Seppala sollte unterstützt werden, der für die längste und gefährlichste Etappe entlang des Norton Sound eingeteilt war, eine kilometerlange, trügerische Eisfläche, über die heftige Windböen peitschten und die nur die erfahrensten Schlittenführer zu befahren wagten. Doch wie konnte man Seppala, der schon unterwegs war, erreichen? Ein weiterer Musher wurde losgeschickt, der den Norweger auf dem Trail abfangen sollte. Ein riskantes Unterfangen, da es nicht unwahrscheinlich war, sich bei Dunkelheit oder schlechtem Wetter zu verpassen.

Durch den Schneesturm
Am 31. Januar machte sich Seppala zusammen mit seiner Hundestafette auf den Weg über den Norton Sound, angeführt von seinem Leithund Togo. Sturmwolken brauten sich am Himmel zusammen und hart gefrorene Schneeflocken wirbelten wie Hagelkörner um ihn herum. Er hatte bereits über 270 km zurückgelegt und war noch lange nicht am Ziel bis sein Gespann plötzlich ein wenig vom Weg abwich. Inmitten des Schneechaos' hatten seine Hunde tatsächlich den Musher gefunden, der Seppala entgegen gefahren war, um ihm das Serum früher als geplant zu überreichen. Nachdem die Fracht sicher auf Seppalas Schlitten verstaut war, machte er sich sofort wieder auf den Rückweg. Auch wenn seine Strecke nun kürzer war, waren es immer noch über 140 km bis zum Ende seiner Etappe.

Hatte Seppala den Wind auf dem Hinweg noch im Rücken gehabt, blies er ihm nun auf dem Rückweg direkt ins Gesicht. Ein Sturm tobte über den Norton Sound, der es Seppala unmöglich machte, auf Gefahren wie brechendes Eis zu horchen. Bald wurde es so dunkel, dass der Musher vollkommen auf die Sinne seiner Hunde vertrauen musste. Auch diesmal war auf Togo und die anderen Verlass. Nach endlosen Kilometern und einem Zwischenstopp erreichten sie schließlich das Ende der Etappe.
Die Rettung
Am 1. Februar übernahm der ebenfalls aus Norwegen stammende Musher Gunnar Kaasen das Serum. Der Sturm hatte sich nicht gelegt, sondern im Gegenteil noch an Stärke zugenommen. Er wartete ein paar Stunden, doch als klar wurde, dass sich das Wetter so schnell nicht bessern würde, beschloss er loszufahren. Über die Gefahren in einem solchen Schneesturm draußen unterwegs zu sein, ist sich ein jeder Musher im Klaren. Ein mehrmalige Gewinner der All Alaska Sweepstakes** beschrieb es einmal so:
Die Luft war von dem wirbelnden Schnee angefüllt wie von Rauch. Er war körnig wie Salz und stach wie Stahlsplitter. Er verklebte meine Pelzmäntel und das Fell meiner Hunde, bis wir am Ende von einer Schneekruste eingehüllt waren, die so fest war wie Eis. Der Lärm machte mich taub. Ich konnte nichts hören, konnte nicht sehen, konnte nicht atmen. Es war, als kämpften die Hunde und ich gegen alle teuflischen Elemente des Universums.***
Schon bald nach Aufbruch wurde Kaasen das volle Ausmaß der Wetterverhältnisse bewusst. Der Trail war durch die Schneemassen nicht mehr zu erkennen und sein Leithund Balto und der Rest des Gespanns mussten immer wieder anhalten und einen neuen Weg einschlagen, über Berge und gefährlich glatte Eisflächen. 16 Kilometer vom letzten Roadhouse entfernt, gewann der Sturm nochmal an solcher Kraft, dass es Kaasen samt seines Schlittens umwarf. Er kämpfte sich aus einer Schneewehe und versuchte in der Dunkelheit das Serum, das heruntergefallen war, zu finden. Er schaffte es erst als er die Handschuhe ausgezogen hatte, ein riskantes Vorgehen, denn bei Temperaturen von -50 Grad kann man bereits nach 30 Sekunden Erfrierungen an den den Händen erleiden.
Als alles wieder sicher verstaut war, machte sich Kaasen auf den Weg zum letzten Übergabepunkt, doch als er am Roadhouse ankam, brannte kein Licht. Der dort wartende Musher hatte die Instruktion bekommen, dass die Staffel aufgrund des schlimmen Schneesturms pausieren sollte, doch wusste Kaasen nichts davon. Um keine Zeit zu verlieren, beschloss er die letzten 32 km auch noch zu fahren. Am Ende seiner Kräfte und halb erfroren, erreichte Kaasen um halb 6 Uhr früh Nome. Die Kleinstadt war gerettet.

Heldenhafte Hunde
Mithilfe des Serums konnten weitere Todesfälle verhindert werden. Doch reichte die Menge nicht aus, um allen Erkrankten zu helfen, sodass eine weitere Hundestafette losgeschickt werden musste. Am 21. Februar konnte die Quarantäne schließlich aufgehoben werden. Obwohl insgesamt 20 Musher und etliche Hunde an der Staffel beteiligt waren, wurden vor allem Gunnar Kaasen und Balto zu internationalen Berühmtheiten. Nach dem „Great Race of Mercy“ (wie das Rennen von den Medien genannt wurde) tourten sie ein Jahr lang durch die USA und trafen dort unter anderem Präsident Calvin Coolidge und Stummfilmstar Mary Pickford. Im Dezember des Jahres 1925 wurde sogar eine Statue von Balto im New Yorker Central Park aufgestellt mit der Inschrift:
Dedicated to the indomitable spirit of the sled dogs that relayed antitoxin six hundred miles over rough ice, across treacherous waters, through Arctic blizzards from Nenana to the relief of stricken Nome in the Winter of 1925
Endurance · Fidelity · Intelligence


* Roadhouses waren einfache Gasthäuser, in denen Schlittenführer auf ihren Routen Schutz vor der Witterung, eine warme Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen finden konnten.
** Die All Alaska Sweepstakes waren ein jährlich stattfindendes Hundeschlittenrennen, das von Nome nach Candle und zurück führte, eine Strecke von über 650 km.
*** Nordwestwärts nach Nome, S. 326



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